Die wahre Geschichte um das Wrack vor Schillighörn
Und ein wenig Erziehung konnte der junge Henning schon vertragen, denn er scherte sich nicht viel um die feine Etikette, die dieses alte Adelsgeschlecht nun einmal verlangte, spielte lieber mit den Bauernkindern Honkball – ein Vorläufer des späteren Baseball – anstatt Französischvokabeln und Algebra zu lernen. Immer wieder büchste Henning vom Privatunterricht aus, stahl sich zum Honkballfeld vor der Stadt und brachte seine Lehrer zur Verzweiflung. Das waren die Eltern von Henning eines Tages leid und sie feuerten die schwedischen Lehrer. Weil sie selbst wegen der Verwaltung ihrer diversen Ländereien keine Zeit hatten, bestellten sie die besten Lehrer nach Schweden, die man nach damaliger Meinung kriegen konnte: deutsche Lehrer.
Ob diese deutschen Pädagogen ihren ausgezeichneten Ruf wirklich verdienten, muss ernsthaft bezweifelt werden, denn ihr hohes Ansehen verdankten sie vor allem der preußischen Strenge. Und die bekam Henning Gudmundson mit voller Härte zu spüren. Jede Minute, die er auf dem Honkballfeld verbrachte, anstatt seinen schulischen Pflichten nachzukommen, wurde ihm mit Stockschlägen vergolten. Immer wieder sauste der Rohrstock auf Henning nieder, denn seine Liebe zum Honkball war groß und der Nachschub an Rohrstöcken war unerschöpflich. Vielleicht hätten Hennings Eltern einmal eingegriffen, wenn es ihn besonders hart traf, aber sie waren ja meistens nicht zu Hause. Bleibende körperliche Schäden trug der Junge aber nicht davon, dafür waren seine Lehrer zu geschickt. So kam es, dass die Rohrstöcke zwar nicht Hennings Knochen brachen, aber dafür auf die Dauer seinen Willen und das war schließlich das erklärte Ziel der damaligen Pädagogik.
Weil die Eltern aber einsahen, dass ihr Sohn zur Verwaltung ihrer Ländereien nicht recht taugte, gaben sie seinem Willen nach und ließen ihn zur See fahren. Auf einem Militärschiff wurde schließlich auch Disziplin verlangt und außerdem war so ein Schiff zu klein zum Honkballspielen. Weil Henning Gudmundson den Gehorsam gelernt hatte und auch weil seine Eltern ihren Einfluss geltend machten, brachte es der junge Offizier binnen drei Jahre zum Kommandanten eines kleinen Militärschiffes und war damit Kapitän der ‚Ole Olsen’. Kurz darauf, es war im August 1914, brach der erste Weltkrieg aus. Und weil in diesem Krieg die halbe Welt gegen Deutschland kämpfte, waren auch Henning mit seiner siebenköpfigen Mannschaft und die ‚Ole Olsen’ mit dabei. Und ihr könnt euch denken, dass Henning nichts lieber tat als deutschen Schiffen nachzustellen, denn der Stachel des Hasses gegen alles Deutsche war seit seiner Bekanntschaft mit deutschen Rohrstöcken für immer in ihn eingepflanzt. Durch wagemutige, nie zu kalkulierende Manöver brachte er der deutschen Kriegsflotte in der Ost- und Nordsee empfindliche Verluste bei. In der schwedischen Heimat wurde er deswegen längst als Held gefeiert, als er angestachelt von seinem Erfolg und seinem Hass auf der Nordsee immer weiter in deutsche Hoheitsgewässer vordrang.
Dann kam, was kommen musste: In der Luft wurde ein Geschwader deutscher Kampfflieger auf das feindliche Schiff aufmerksam und ging sogleich zum Angriff über. Gegen diese Übermacht aus der Luft war das kleine schwedische Kriegsschiff chancenlos. Nachdem die feindlichen Flugzeuge alle Bomben abgeworfen hatten und wieder abgezogen waren, dümpelte die ‚Ole Olsen’ schwer getroffen und leckgeschlagen vor sich hin.
Natürlich wäre es in dieser Situation am vernünftigsten gewesen, das Schiff aufzugeben und die Mannschaft mit dem noch intakten Beiboot in Sicherheit zu bringen. Nicht so Henning Gudmundson. Zwar ließ er das Schiff räumen und seine Leute mit dem besagte Beiboot in sicheres Gewässer schiffen, wo sie einen Tag später von einem dänischen Kutter aufgelesen wurden, er selbst aber blieb an Bord, komme was wolle. Stur und gegen alle Vernunft ließ er sich nicht dazu bewegen, sein Schiff aufzugeben. Er ließ seine Leute ziehen und saß stumm und verbissen hinter der letzten noch halbwegs funktionstüchtigen Bordkanone und drang mit seinem Schiff, das mehr und mehr voll Wasser lief, immer weiter vor in feindliches Gewässer, bis es nicht mehr weit war bis zur deutschen Küste. Gudmundson war wie besessen von dem Gedanken noch ein deutsches Schiff mit seiner halb schrottreifen Bordkanone zu erwischen. Es gab aber noch einen viel wichtigeren Grund, weshalb es für ihn auf keinen Fall in Frage kam, seiner allmählich sinkenden ‚Ole Olsen’ den Rücken zu kehren, ein Notsignal zu setzen und sich retten zu lassen, notfalls von einem deutschen Krabbenkutter. Bei Kriegseintritt hatte Gudmundson wie alle höheren Offiziere einen Gehorsamseid geleistet, der die Kommandanten darauf verpflichtete, bis zuletzt gegen den deutschen Feind zu kämpfen und keinesfalls aufzugeben, so lange man noch über eine Waffe verfügte, die dem Feind Schaden zufügen konnte. Solche Eide waren damals gang und gäbe, jeder leistete sie, ohne sich viel dabei zu denken. Und jeder hätte es akzeptiert, wenn jemand in einer Situation wie Gudmundson aufgegeben hätte, vermutlich hätte man ihn in seiner Heimat sogar als Helden gefeiert.
Henning aber, den man den Gehorsam mit unzähligen Stockschlägen eingebläut hatte, blieb in aussichtsloser Lage an Bord und klammerte sich an seine letzte Waffe, die verbliebene Bordkanone. Wie im Wahn fuhr er immer wieder herum, die Waffe im Anschlag, um vielleicht doch noch irgendetwas Deutsches aufs Korn zu nehmen. Aber wie durch ein Wunder blieb die ‚Ole Olsen’ von der feindlichen Aufklärung völlig unbemerkt, während sie immer mehr auf die deutsche Nordseeküste am Jadebusen zu trieb. Nur die Lachmöwen über ihm schienen einen spöttischen Kommentar abzugeben, als Henning noch immer seine Waffe herumriss, während ihm das Wasser schon bis an die Hüften reichte. Und dann, in der Nacht auf den 30. April 1916 war es so weit. Henning Gudmundsons ruhmreiches Kriegsschiff, die ‚Ole Olsen’, sank bei Flut vor Schillig auf den Boden des Wattenmeeres, wo das Schiff noch heute liegt. Die Fischer von Schillig staunten nicht schlecht, als sie am nächsten Morgen bei Ebbe ein feindliches Schiff so dicht vor ihrer Küste im Watt liegen sahen. Sie liefen hin, sahen den Leichnam Gudmundsons noch immer an die Bordkanone geklammert, und beratschlagten, was zu tun sei. Die Fischer von Schillig sind friedfertige Leute und deshalb kam man überein, den seltsamen Fund nicht der zuständigen Militärstelle zu melden, wie es eigentlich jedermanns Pflicht gewesen wäre. Im Gegenteil: Man entschloss sich, kurzerhand alles abzumontieren, was die ‚Ole Olsen’ als feindliches Kriegsschiff verriet, und damit schlug man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Man vermied nicht nur den ungemütlichen Aufruhr durch viele aufgeregte Militärs in dem verschlafenen Nest, die Fischer konnten sich außerdem ein kleines Sümmchen nebenbei verdienen, denn hochwertiger Schrott erzielt bekanntlich zu Kriegszeiten immer Spitzenpreise. Das ist also der Grund dafür, warum bei dem heutigen Wrack nichts mehr an ein schwedisches Kriegsschiff erinnert.
Als man aber Hennings verbliebene Bordkanone abschrauben wollte, stieß man auf das Problem, dass der Leichnam diese Kanone nicht hergeben wollte, so sehr man sich auch bemühte. Man wollte aber auch die verräterische Kanone nicht stehen lassen mit dem feindlichen Kapitän daran, der im Laufe der nächsten Tage von den Möwen verspeist werden würde. Es war wohl die Achtung vor einem Kapitän, der es mit seinem Schiff immerhin bis kurz vor die deutsche Küste gebracht hatte, weswegen die Fischer darauf verzichteten, Gudmundson die Knochen zu brechen, um so die Kanone freizubekommen. Die Schilliger machten kein langes Federlesen und montierten die Kanone trotzdem ab, dann eben mit dem Leichnam daran. Wie die anderen Wrackteile schaffte man beides an Land und wollte Henning begraben und auf die paar Reichsmark für die Kanone verzichten. Weil man das schwere Zweigespann, Leiche und Kanone, aber nicht bis zum Schilliger Friedhof schleppen wollte, begrub man beides gleich hinter dem Dünenkamm. Sollte es ein Zufall sein, dass genau da heute die Schillighörner Jugendherberge steht ? So weit, so gut, werden viele sagen, hätte da nicht Gudmundson in seinem unbefriedigten Hass einen Fluch ausgesprochen, kurz bevor er mit seiner Bordkanone in der Nordsee versank. Es war kein Fluch gegen deutsche Soldaten, von denen er keinen mehr zu Gesicht bekam. Es war ein Fluch gegen die Deutschen, die in seiner Kindheit den bedingungslosen Gehorsam in ihn hineingeprügelt hatten und die so die Hauptschuld daran trugen, dass Henning diesen grausamen und sinnlosen Tod sterben musste: Sein Fluch traf die deutschen Lehrer.
Schon vor der Zeit des Henning Gudmundson war das Schilliger Watt berühmt-berüchtigt für seine gefährlichen Schlicklöcher. Wie so ein Schlickloch genau entsteht, ist noch ungeklärt, aber die Halbinsellage von Schillig, die Erdrehung und bestimmte Felsformationen unter dem Wattenmeer scheinen dabei eine besondere Rolle zu spielen. Wer in ein Schlickloch tritt, hat nicht den Hauch einer Chance, denn er verschwindet auf der Stelle drei bis fünf Meter im Schlick, ohne die geringste Möglichkeit, sich befreien zu können. Und das Gemeine ist: Das abziehende Wasser überzieht die Löcher mit einer dünnen Sandschicht, so dass sie vom umgebenden festen Sand nicht zu unterscheiden sind. Zudem verändern sie von Zeit zu Zeit ihre Lage, einige Löcher versanden, dafür entstehen anderorts neue. Warum die Wattführer bei Schillig überhaupt noch Gruppen ins Watt führen ? Genauso gut könnte man einen Jäger fragen, warum er noch auf die Jagd geht, trotz der alljährlichen tödlichen Jagdunfälle. Außerdem sind die Schilliger Wattführer wahre Meister ihres Fachs. Sie sind die einzigen, die im Watt die verräterische Körnung des bedeckenden Sandes erkennen können und machen dann mit ihren Gruppen stillschweigend einen Bogen. Der Fluch des Henning Gudmundson will es aber, dass es jedes Jahr einen deutschen Lehrer erwischt. Für jeden Stockhieb, den der junge Henning von einem deutschen Lehrer erhalten hat, muss einer seiner Kollegen viele Jahre später dran glauben. Für jeden erhalten Stockschlag ein Lehrer pro Jahr, bis alle Hiebe abgegolten sind, aber Henning Gudmundson hat viele Stockhiebe erhalten, sehr viele.
Man kann darüber rätseln, warum es einige Lehrer trifft und warum andere verschont bleiben. Vielleicht ist es der Geist Gudmundsons, der sich an seiner Grabesstelle mit seiner Bordkanone beladen durch die Schillighörner Jugendherberge schleppt und dabei eine Auswahl trifft. Es sind jedenfalls die eher unbeliebten Lehrer, die es erwischt, diejenigen, die im Watt gerne etwas abseits oder hinter ihren Gruppen gehen. Und dann passiert es: Von einem Schritt auf den nächsten versinken sie in so einem tückischen Schlickloch. Eben war er noch da, und schwupp, jetzt ist er weg. Die sandige Oberfläche schließt sich sofort wieder und nichts deutet darauf hin, dass es Studienrat Riemschneider, einen Oberrat Fassbender und wie sie alle heißen, jemals gegeben hat. Die Schüler machen, wenn sie das Verschwinden endlich bemerken, kein großes Aufheben um die Sache und sind sogar etwas froh, dass sie die unbeliebte Begleitung nun los sind. Meistens wird verbreitet, die Lehrer hätten sich, der Plackerei mit den ungezogenen Bälgern anderer Leute überdrüssig, klammheimlich von einem nahe gelegenen Hafen aus nach Übersee abgesetzt, um da ein neues Leben anzufangen. Der Leiter der Jugendherberge, Herr Bremer, und auch die vielen Wattführer der Gegend wirken mit an der Verbreitung dieser Lügengeschichten. Will man etwa wegen ein paar unbeliebten Paukern seine Arbeit verlieren und am Hungertuch nagen ? Bestimmt nicht. So ist auch in Zukunft bestens dafür gesorgt, dass es für die späte Rache des Henning Gudmundson reichlich Nachschub gibt.
Landauf landab denkt man in deutschen Lehrerzimmern mit ein wenig Neid an die verschwundenen Kollegen und glaubt sie glücklich und zufrieden in fernen Ländern. Dabei stecken sie gleich vor der eigenen Haustür ca. einen Meter tief im Watt eines inzwischen versandeten Schlicklochs, zumeist in aufrechter Körperhaltung, und gehen da den Weg alles Irdischen. Die Meeresforscher beobachten in den letzten Jahrzehnten übrigens eine rätselhafte Zunahme der biologischen Aktivität im Watt bei Schillig, wofür das Ansteigen der Wattwurmpopulation ein sicherer Indikator ist.
Wenn du also das nächste Mal bei Schillig durchs Watt gehst und die vielen kleinen Kothäufchen der Wattwürmer siehst, denke daran, dass da unten vielleicht gerade ein Lehrkörper dabei ist, verdaut zu werden.