Aus Teil I ‚TABLEAU VIVANT - Ein Lehrer steht seinen Mann‘
Jetzt steht er da schon geschlagene fünf Minuten und Lisa, Marco, Sandra und Caro sind noch immer nicht so weit, stehen noch immer nicht so, wie sie es zuletzt zigmal geübt haben.
Zum Glück noch keine Besucher, die Fünftklässler, die drüben Fangen spielen und ab und zu mal neugierig herüberschauen, zählen nicht. Der Weltermann dürfte seine Eröffnungsansprache in der Aula gleich beendet haben, und dann würde es nicht mehr lange dauern, bis die ersten den Weg am Klassentrakt vorbei zu ihnen auf den Hof finden würden.
Carolin, näher ran! Tausendmal hat er ihnen erklärt, dass ihr Thema „Mensch und Maschine“ für Außenstehende gar nicht erkennbar wird, wenn man so weit auseinander steht, dass die Maschinenteile gar nicht in einander greifen.
Es tat ihm schon ein wenig leid, dass er sich überhaupt darauf eingelassen hatte, als Lehrer selbst bei den Tableau vivants mitzumachen. Wie sollte man ohne den Blick von außen das eine oder andere noch korrigieren können? Oder bewerten? Aber leider war er auf diesen plumpen Erpressungsversuch hereingefallen.
Sie haben gut reden. Wir machen das nur, wenn Sie sich da auch mit hinstellen, blabla. Er musste was präsentieren an diesem ersten kulturellen Tag am Albertinum, wie sähe das sonst aus vor dem Weltermann und den andere Herrschaften aus dem erweiterten Kreis der Schulleitung. Er, Helbig, war schließlich Mitinitiator dieses besonderen Tages, wenn auch nicht ganz freiwillig.
Ein Montag war dafür nicht gerade der ideale Tag, zugegeben, aber die schulinternen Termine waren wegen des frühen Ferienbeginns verflixt eng gestrickt. Und dass es der Schützenfestmontag wurde, hatte Helbig höchstpersönlich durchgesetzt.
Seine flammende Rede bei der Lehrerkonferenz entfaltete weniger durch Überzeugungskraft, sondern eher durch den Amüsement-Faktor Wirkung auf das Kollegium. Manch einer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als Helbig sich dafür stark machte, diesen paramilitärischen Saufgelagen endlich mal Paroli zu bieten – mit wirklich gehaltvollen kulturellen Beiträgen. Mit Kunst eben, wofür er als Kunsterzieher ja ausgewiesener Fachmann war. Den meisten Kollegen war’s einerlei. Fast alle waren zugezogen und ergo wenig verankert in den bürgerlichen Strukturen vor Ort. Niemand war Mitglied im Schützenverein, soweit Helbig wusste. So erhielt der Schützenfestmontag bei der Abstimmung eine knappe Mehrheit. Viele Kollegen mochten dabei ihre Schüler vor Augen gehabt haben, wie sie an solch einem Tag müde und unmotiviert in den Bänken hingen, womöglich noch angetrunken vom Vortag. So hoben die Lehrer wohl aus demselben Grund den Arm, wie ihre Schüler es in dieser Situation getan hätten:
Natürlich musste der ausgewiesene Kunstfachmann an diesem Tag auch etwas Ansehnliches beisteuern.
Auf Helbigs Idee, lebende Statuen darzustellen, war der Kunstkurs zum Glück spontan angesprungen. Zwei oder drei kannten diese Kunstform von Besuchen in Barcelona oder Mailand. Bei Helbig sollten es aber keine Einzel-, sondern Gruppenpräsentationen sein, ganz so, wie diese Kunstform im 18. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatte. Seinen Schülern war das nur recht, denn natürlich fühlten sie sich sicherer, wenn sie sich in einer Gruppe hinstellen konnten und sich nicht einzeln exponieren mussten. Diese Gruppen hatten dann fünf bis sieben verschiedene Postionen einstudiert, die sie auf ein vereinbartes, möglichst geheimes Signal von jemandem im Tableau plötzlich einnahmen, um sogleich wieder für Minuten zu erstarren. Positionen wohlgemerkt, nicht Stellungen. Den Fehler hatte Helbig anfangs gemacht. Bis er nach dem Kurs eine seiner Schülerinnen zu einer anderen auf dem Flur sagen hörte.
Stell dir vor, wir haben heute bei Helbig fünf verschiedene Stellungen ausprobiert. Lautes Gelächter.
Bei dem alten Sack? Na ja, wenigstens hat er Erfahrung.
Jedenfalls war er hier mit seinem Tableau vivant eigentlich fein raus, das wurde Helbig immer deutlicher bewusst. Als Teil eines Kunstwerkes war er prinzipiell nicht ansprechbar, auch dann nicht, wenn es beim Ablauf dieses Tages die eine oder andere Panne geben sollte. Was mehr als wahrscheinlich war.
Die lebenden Statuen der anderen Teilnehmer aus seinem Kunstkurs hatte er schon in der letzten Kursstunde bewertet, natürlich wieder mit dem üblichen Palaver. Am Ende reichte es für diejenigen mit der dürftigsten Vorstellung immerhin noch für eine drei plus. Jetzt standen sie in vier weiteren Tableaus an vorher fest vereinbarten Punkten im Schulgebäude, die meisten in der Nähe der Aula. Natürlich standen sie da. Warum zweifeln? Da musste man sich jetzt einfach mal drauf verlassen können!
Hier auf dem Schulhof waren sie jedenfalls die einzigen, die etwas mit kulturellem Anspruch zeigten. Dabei hätten sie keine Konkurrenz fürchten müssen, denn sie machten wirklich was her, da konnte keiner dran tippen. Und Helbig trug dazu maßgeblich bei, musste man schon sagen. Sein komplettes Silberoutfit sprang wirklich ins Auge. Und wie begeistert seine Schüler bei der Sache waren, als sie seine mitgebrachte alte Kleidung draußen mit Silberfarbe einsprühen durften. Allerdings, drei große Dosen waren dabei draufgegangen, nicht ganz billig. Für den kleinen Sockel, auf dem er stand, musste Alu-Folie her. Kai hatte die Notwendigkeit des Sockels angezweifelt, eine willkommene Gelegenheit für Helbig, das ästhetische Prinzip der Symmetrie zu erläutern. Außerdem wirkte es einfach nicht, wenn die Jungs aus seinem Kurs ihn überragten. Silberschminke fürs Gesicht hatte er noch bei den Theaterrequisiten der Schule gefunden, vermutlich schon Jahrzehnte alt. Aber er verließ sich einfach mal darauf, dass so etwas nicht verdarb. So war sogar sein Kopf komplett in Silber. Die Aufmachung kaschierte übrigens auch den Altersunterschied zu seinen Schülern ganz ordentlich, auch wenn diese alte Schminke schon etwas spannte im Gesicht.
Wäre da nicht seine ziemlich untersetzte Konstitution und ein Bäuchlein. Na gut, Bauch. Eigentlich unübersehbar, aber Helbig hatte ganz bewusst Posen für sich ausgewählt, die seine Plauze so gut wie verschwinden ließen.
Dass Sabine ihn neulich im Fitnessstudio angemeldet hatte. Lächerlich. Er war sogar einmal dort gewesen. Aber als er all den muskelbepackten, hormonstrotzenden Jungspunten gegenüberstand, die ihn herausfordernd-spöttisch ansahen, hatte er auf dem Absatz wieder kehrt gemacht. Dieser ganze Hype um Körperlichkeit und Äußerlichkeiten. Widerlich, wie alle jedem Trend hinterherliefen, besonders seine Schüler – und Schülerinnen. Wie sie vor ein paar Jahren plötzlich alle mit Leggings herumliefen, obwohl sich das maximal fünf Prozent von ihnen leisten konnte, nicht finanziell, sondern von der Figur her, versteht sich.
Mädchen in einem gewissen Alter waren noch zu ganz anderen Entstellungen in der Lage. Sie konnten im Nu ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht in einen hässlichen Insektenkopf mit dunklen, wesenlosen Rasteraugen verwandeln, indem sie eine von diesen Sonnenbrillen mit überdimensionierten, monströsen Gläsern aufsetzten. Siehe seine Tochter Lena.
Und seit ein paar Jahren waren sogar die Jungs diesem Hype um das Äußere verfallen.
Kursfahrt nach Köln. Halt an der Domplatte. Aber die Horde von gegelten und gestylten Kulturbanausen hatte nicht den geringsten Blick für den Dom, dieses Wunderwerk gotischer Baukunst und erst recht nicht fürs Römisch-Germanische. Geschlossen strömten sie zu einem Hugo Boss Laden an der Ecke. Da war sogar Malte noch mit von der Partie. Immerhin hatte der sich später die Exponate in den Vitrinen lange und interessiert angesehen. Zu Ausstellungsstücken moderner Kunst im Museum Ludwig hatte er Helbig Fragen gestellt, während die anderen das alles nur für Schwachsinn hielten und ohne einen Blick zur Seite die Museumsflure entlang hetzten. Malte hatte die Schule irgendwann verlassen und eine Ausbildung angefangen. Helbig war es ein Rätsel, warum. Am Fach Kunst lag es jedenfalls nicht.
Jetzt ausgerechnet tauchte Jenny Schütz drüben am Eingang zum Hof auf. Jenny und Malte waren ein festes Paar, zumindest, als der noch auf der Schule war. Gut möglich, dass sie immer noch zusammen waren, denn irgendwie passte das mit den beiden. Auch Jenny hatte etwas Unkonventionelles, Unangepasstes. Vor allem nahm sie kein Blatt vor den Mund. Der Eklat mit Pater Lorenz lag schon länger als ein Jahr zurück und spaltete nach wie vor das Kollegium.
Die einen lobten die kritische, naturwissenschaftlich geprägte Haltung der Schülerin, die anderen hatten einfach nur Mitleid mit dem kreuzbraven Pater, der wegen des fachspezifischen Lehrermangels ehrenamtlich ein paar Stunden Religionsunterricht erteilte.
In so einer Stunde hielt ihm Jenny Schütz passend zur Adventszeit ein glasklares Statement von Inga Benge unter die Nase, der Biologielehrerin der Klasse.
Die Zellkerne beim Menschen weisen einen diploiden Chromosomensatz auf. Ein menschliches Lebewesen mit einem haploiden Chromosomensatz ist nicht denkbar. Es komme erst gar nicht zur Zellteilung. Wenn schon kleinere Unregelmäßigkeiten bei dem normalen diploiden Satz zu unübersehbaren Abweichungen führen, siehe Trisomie 21, würde sich ein lebensfähiger Mensch mit ausnahmslos haploiden Satz niemals entwickeln. Die Biologiekollegin schloss ferner aus, dass eine weibliche Eizelle von vorne herein einen diploiden Satz haben könne.
Jenny hatte einige Mühe, dem Pater die biologischen Zusammenhänge auseinanderzulegen. Anschließend ließ sie sich vom Geistlichen versichern, dass Jesus tatsächlich Mensch geworden war. Da war sich der Pater nun wieder ganz sicher und lächelte überlegen. Aber nicht lange.
Eine einfache Frage:
Wie kommt Jesus von Nazareth an seinen diploiden Chromosomensatz, wenn seine Mutter Maria doch noch Jungfrau war?
Geheimnis des Glaubens? Oh, da kannte er Jenny Schütz schlecht. Und das mit dem Empfangen vom Heiligen Geist wollte sie ganz genau wissen, geradezu körperlich genau. Wie denn ein Heiliger Geist, der eben kein Mensch sei, sondern ein Geist, einen menschlichen Chromosomensatz hinterlassen könne und zwar in der Maria, die doch an den notwendigen diploiden menschlichen Satz kommen muss. Somit sei auch die unbefleckte Empfängnis anzuzweifeln, denn nur in dem Flecken konnte ein Sperminchen herumschwimmen, das schließlich das Rennen gemacht habe. Ein menschliches Sperminchen wohlgemerkt. Ergo habe ein menschlicher Mann in der Maria sein Erbgut hinterlassen, und wie sonst als durch einen Höhepunkt. Der weibliche Höhepunkt sei für die Fortpflanzung zwar nicht so entscheidend, sie gönne der Maria, aber auf jeden Fall, dass sie an diesem heiligen Akt auch ein wenig ihre Freude gehabt habe. Sie jedenfalls…
Jenny brach ab, denn der arme Pater wirkte so überfordert und konsterniert, dass er wirr im Raum umher schaute und sich am Waschbecken festhalten musste.
Vielleicht war es wirklich Mitleid, weswegen Jenny versuchte den Heiligen Geist irgendwie doch noch an der Sache zu beteiligen, denn der lag dem Pater anscheinend ja besonders am Herzen. Doch mit dem, was dann kam, gab sie dem guten Mann vollends den Rest.
Sie, Jenny, stelle sich das so vor, dass sich der Heilige Geist bei dem Akt hinter dem Josef befunden habe, je nachdem stehend oder schwebend. Die Hand des Heiligen Geistes könne während des Akts im Bereich des Steißbeins auf dem Josef geruht haben. Nur allzu verständlich, dass dieser davon keine Notiz genommen hatte, im Eifer des Gefechts. Ausgehend vor dieser Hand könnte die heilige Kraft nun durch das Becken des Josef hindurch gewirkt haben, bis zu den Spermien hin, die auf dem Höhepunkt der Lust von Josef freigesetzt wurden, und wovon eines Marias Eizelle befruchtete, woraus dann Jesus entstand.
Diese Beschreibung brachte den Pater nun so in Rage, dass er Jenny beschimpfte, beleidigte und sogar schon die Hand erhoben hatte.
Jennifer Schütz aber fühlte sich zu Unrecht so angegriffen, schließlich hatte sie dem Pater mit der Beteiligung des heiligen Geistes entgegen kommen wollen. So getroffen ging sie nun ihrerseits in die Offensive, sprach die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit an, dass Maria und Josef es vorher schon die ganze Zeit munter mit einander getrieben hatten, jawohl munter, denn wer wird schon gleich beim ersten Mal schwanger. Als Jennifer dann noch andeutete, dass es im Übrigen vollkommen unbewiesen sei, dass Josef ihr erster war, dass sie vorher auch noch mit anderen Männern verkehrt haben könnte, möglicherweise als Heilige Geister getarnt, da war das Maß voll. Der arme Pater stürzte mit puterrotem Kopf und um Fassung ringend ins Lehrerzimmer. Helbig und andere umstehende Kollegen nahmen sich des Mannes an, schoben ihn auf einen Stuhl und stellten ihm ein Glas Wasser hin.
Pater Lorenz war gerade wieder einigermaßen hergestellt, da kam ausgerechnet Jennys Biolehrerin Inga Benge mit einem Arm voller Bücher ins Lehrerzimmer. Sie hatte doch mit ihrem diploiden, haploiden Chromosomen-Blabla den Stein erst ins Rollen gebracht und die Schülerin aufgehetzt. Der Pater sammelte sich kurz und machte sich Luft.
Wie sie denn mit ihrem Unterricht seine geistliche Autorität untergraben könne, und nicht nur das, das christliche Fundament der westlichen Kultur stehe auf dem Spiel. Nicht umsonst sei die Jungfräulichkeit Mariens ein unumstößliches päpstliches Dogma… Die Benge, zu perplex, um zu antworten, legte nur kopfschüttelnd ihre Bücher ab, schaute den Pater eine Weile besorgt an und machte sich dann auf in die Kaffeeecke.
Helbig gab das verdeckte Zeichen zum Positionswechsel. Schade, dass Sabine ihn so nicht sehen konnte. Sie war am Vormittag zum Sport, Tennis neuerdings, und am Nachmittag arbeitete sie wieder in der Bank. Zwei Jahre nach Lenas Geburt war sie in ihren alten Job zurückgekehrt. Beim Halbtag war sie geblieben, als Lena aus dem Gröbsten raus war. Die wurde im September schon siebzehn.
Lisa und Marco hätten sich mit ihren Kostümen wirklich mehr Mühe geben können. Gibt `ne drei, allerhöchstens. Das von Caro dagegen war in Ordnung, sie hatte sich ein paar originelle Details einfallen lassen, um die Ambiguität des Rahmenthemas „Mensch und Maschine“ aufzuzeigen.
Aber das alles änderte nichts daran, dass das Interesse hier draußen bisher recht mau war. Das Wetter war auch nicht gerade dazu angetan, um Besucherhorden auf den Hof zu locken. Von Frühling keine Spur, dichter, wolkenverhangener Himmel. Immerhin kein Regen.
Da kam endlich die erste Schülergruppe aus dem Schulgebäude zu ihnen herüber. Schüler aus der 7c, die Helbig in Kunst hatte, und natürlich geiferten wieder alle Jungs um Tanja herum. An ihrem Tableau angekommen hörten sie immerhin auf zu quatschen und standen einen Moment schweigend davor. Dann kramte Julius, der Schlaumeier, das Faltblatt hervor und las laut vor: Mensch und Maschine. Und Cedric, mit einem anbiedernden Seitenblick zu Tanja: Was stellen Sie eigentlich dar, Herr Helbig, Mensch oder Maschine? Und Tanja lacht auch noch, die dumme Pute. Helbig gibt das vereinbarte Signal, die ganze Gruppe ändert die Position, Körper und Gesichtsausdruck frieren augenblicklich wieder ein. Einige der Betrachter fahren übertrieben erschrocken zurück.
Huch, jetzt haben wir uns aber erschreckt.
Haut bloß ab.
Tun sie auch. Endlich gehen sie weiter.
Zwei schon etwas reifere Damen kamen nicht vom Schulgebäude, sondern drüben vom Park her herüber. Vermutlich hatten sie mit dem Albertinum gar nichts zu tun und hatten bei ihrem Vormittagsspaziergang nur einen kleinen Abstecher gemacht. Sei’s drum, besser solche Besucher als gar keine.
Beide Damen dürften schon in den Sechzigern sein, wirkten gepflegt und hatten es wie viele Frauen in diesem Alter mit den Retuschen in ihrem Gesicht etwas übertrieben. In Anbetracht dieser Ladys zog Helbig seinen Bauch minimal ein. Die Freundinnen kamen näher, redeten ohne Unterbrechung über Alltagsbanalitäten, wobei die Großgewachsene mit der Dauerwelle das Gespräch deutlich dominierte. Helbig wartete die ganze Zeit darauf, dass sie endlich zur Ruhe kamen und sich gedanklich dem Tableau zuwenden würden, das sie jetzt schon seit ein paar Minuten vor der Nase hatten. Aber nichts dergleichen.
Die beiden stehen da und besonders die groß gewachsene Dauerwelle redet ohne Punkt und Komma. Die kleinere Pelzjacke streut eine Bemerkung ein, und schon hat Dauerwelle wieder einen neuen Anlass, die nächste Banalität in einem nicht enden wollenden Redefluss breitzutreten. Dabei bleibt auch Privates nicht außen vor. Die reden gerade so, als hätten sie wirklich nur ein paar Puppen vor sich.
Jetzt reicht’s aber.
Helbig gibt das Signal für „Mensch und Maschine“, Position 4.
Und? Nichts und. Der einzige Effekt besteht darin, dass das Gespräch für genau zwei Sekunden stockt. Dann erzählt Dauerwelle weiter, von irgendeinem Zahnarztbesuch. Auch das noch. Wie lange lag sein letzter Kontrolltermin schon wieder zurück. Kontrolltermin, nicht Checkup. Gegenüber der Sprechstundenhilfe wiederholte er das vereinbarte Datum und sprach dabei den korrekten deutschen Begriff ganz langsam aus: Kontrolltermin.
Etwas stimmte nicht an der Art, wie Dauerwelle über ihren Zahnarztbesuch sprach. Es war die Intonation, eine gewisse Emotionalität, die so gar nicht zu einem solchen Arztgang passen wollte, für gewöhnlich doch eher etwas Unangenehmes. Nicht so Dauerwelle, sie schwärmte neben der Pelzjacke von ihrem Arzt wie ein Backfisch. Was sich steigerte, als es darum ging, wie sie unter ihm gelegen hatte. Und allen seinen Handlungen hilflos ausgeliefert, dachte Helbig sich hinzu. Und tatsächlich ging dieser Arzt sehr entschlossen zu Werke. Womit? Irgendetwas war an ihren Zähnen zu richten, genauer, eine Prothese anzubringen. Klingt wenig aufregend, aber dann kam das:
Wenn der dir die Prothese einsetzt, ist das so, als wenn dir jemand den Schlüpfer hochzieht.
Schlüpfer hochzieht? Aua! Gerade in Position 4 von „Mensch und Maschine“ zwickte die Silberhose ganz schön im Schritt, weil er ein Bein nach hinten weggestreckt hatte. Nicht auszudenken, dass ihm dann noch jemand die Unterhose hochzieht. Ein Schmerz, von dem Frauen keine Ahnung haben. Sie meinen vermutlich, dass da lokal an den Eiern etwas wehtut und erahnen nicht dieses umfassende Gefühl des Elendseins, das sich vom Unterleib aus über den ganzen Körper ausbreitet, der Tod oder zumindest eine Ohnmacht wäre eine Erlösung. Nicht umsonst hatte er schon als B-Jugendlicher mit dem einzigen Sport, den er jemals getrieben hatte, aufgehört, nachdem ein Fußball ihn hart im Unterleib getroffen hatte.
Von Seiten der dauergewellten Prothesenträgerin war das Hochziehen der Unterwäsche aber alles andere als schmerzhaft gemeint, so viel war sicher.
In mehr als 20 Jahren Ehe war Helbig noch kein einziges Mal auf die Idee gekommen, seiner Sabine ihren Schlüpfer hochzuziehen. Helbig wollte immer nur die Gegenrichtung, er wollte ihn herunterziehen. Wie alle Männer zu allen Zeiten wollte er das, was seine Frau da unten trug, nach unten bekommen, um dann ungehindert weitermachen zu können. Und Frauen wünschen sich, dass ihnen jemand den Schlüpfer hochzieht?!
Die Unterschiedlichkeiten zwischen den Geschlechtern sind hinlänglich beschrieben, angeblich stammen sie ja sogar von zwei verschiedenen Planeten – Sabine hatte ein Buch dazu. Und da schien ja etwas dran zu sein, wenn sich schon die erotischen Fantasien bei Mann und Frau in diametral entgegen gesetzte Richtungen bewegten.
Aah!
Ein plötzlicher Schmerz riss ihn aus seinen Gedanken.
Herr Helbig ?
Ist schon gut, Caro.
Aber was sollte er denn machen? Helbig hatte alle Mühe, nicht loszuschreien. Die Unterseite seines linken Oberschenkels hatte sich verkrampft, weswegen Helbig das Bein strecken musste. Dabei stieß es unwillkürlich zwischen Caros Beine, so wie sie jetzt dastanden. Jetzt schon ein Krampf, es war doch erst Vormittag, und am Nachmittag sollte er noch bei einem anderen Tableau mitwirken. Und jetzt schon wieder ein Positionswechsel kam nicht in Frage, der letzte war gerade erst gewesen. Ein einzelnes kleines Mädchen mit einem Lutscher stand vor ihnen und sah abwechselnd auf Helbigs ausgestrecktes Bein und in sein Gesicht. Es musste ein ziemlich verkrampfter Gesichtsausdruck sein bei den Schmerzen. Was tun? Eine ehrliche Erklärung abliefern? Damit würde er garantiert das Tableau zerstören, denn nicht nur Caro, sondern die ganze Gruppe würde losprusten vor Lachen. Caro würde Helbig doch nicht zutrauen, dieses Tableau für einen billigen Körperkontakt zu nutzen, oder?
Jedenfalls half das Strecken. Der Krampf wich, Helbig zog möglichst unmerklich sein Bein zurück, seine Gesichtszüge entspannten sich. Er versuchte einen entschuldigenden Blick Richtung Caro, aber die hielt den Kopf starr zur Seite gewandt. Gut so, schön in der Rolle bleiben.
Zu seiner Rolle als jemand jenseits der 50 gehörte, dass er wirklich nur noch als Lehrkörper wahrgenommen wurde, ohne dass man diesem Körper noch irgendetwas anderes zutraute. Für Schülerinnen wie Caro war er längst jenseits von Gut und Böse. War er das nicht vielleicht wirklich ein bisschen? Mit 54 fühlt man eben anders als mit 24. Liegt am Hormonstatus, genauer, am Testosteron, so sein Urologe. Zu so einem Arzt war er auf Drängen von Sabine mal hingegangen, nach der soundsovielten Panne in Folge.
Was diese Pannen unerträglich machte, war weniger Sabines Gesicht, es war die Erinnerung an ein ganz anderes Empfinden, an dieses unbedingte Drängen und Wollen, aber das lag Jahrzehte zurück.
Damals in seiner Klasse kursierten unter der Hand billigen Pornoheftchen, aber er wollte davon nichts wissen. Für ihn gab es eine andere, nur für ihn.
Sie stand oben links im Chor und er kannte sie in- und auswendig von den zahllosen Messdiener-Stunden am Altar. Zusammen mit einem Holzschnitt zur Steinigung des Heiligen Stephanus auf der anderen Seite rahmten sie das Allerheiligste im Zentrum des Chores. Dass es sich in beiden Fällen um Holzskulpturen handelte, war auch schon die einzige Gemeinsamkeit. In der Steinigungsszene war ein muskelbepackter Koloss gerade dabei, einen zentnerschweren Felsbrocken auf den Kopf des Heiligen Stephanus niedersausen zu lassen, und es war klar, dass dieser zarte Heiligenschein nicht den geringsten Schutz bieten würde. Die nächste Sekunde würde das Schicksal des Stephanus auf sehr unappetitliche Weise besiegeln. Der aber faltete bloß die Hände und schaute an dem Koloss vorbei mit verklärtem Blick gen Himmel, wo sich eine kleine Taube aus einer Sonne heraus zeigte.